Vincent Först / netzpolitik<p><strong><a href="https://extradienst.net/?p=95570" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">Trugbild: Im digitalen Mittelalter</a></strong></p><p><strong>Das Versprechen einer besseren Welt durch soziale Medien steht auf der Kippe. Stehen wir kurz vor einem neuen magischen Jahrhundert?</strong></p><p>Als gemeiner Bauer muss der Gang auf den mittelalterlichen Marktplatz recht übel gewesen sein. An jeder Ecke lauerten Gauner und Trickbetrüger, gottlose Geistliche oder am Ende gar die Pest. Am Galgen hing der liebe Freund, auf dem Scheiterhaufen verbrannte die nette Nachbarin.</p><p>Manchmal, wenn ich mich wieder einmal durch meinen Feed suchtquäle, fühle ich mich in diese Jahrhunderte zurückversetzt: Denn magisches Denken, Alchemie und allerlei Irrglauben sind auch dort auf der Tagesordnung.</p><p><strong>„Goldmacher“ der Gegenwart</strong></p><p>Das Wunder unserer zeitgenössischen Alchemisten <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Meme-Coin" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">heißt Meme-Coin</a>. Es sind Kryptowährungen ohne realen Gegenwert, deren Ursprung und Markenidentität stark von Netz- und Popkultur geprägt sind. Anders als herkömmliche Coins verfolgen sie meist kein technologisches Innovationsziel. Die Fußballer Lionel Messi oder Lukas Podolski <a href="https://www.zeit.de/geld/2024-11/werbepartner-fussballprofis-krypto-lukas-podolski-lionel-messi-cristiano-ronaldo/komplettansicht" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">werben fleißig</a> für die Spaßwährungen.</p><p>Stars wie Caitlyn Jenner, Jason Derulo und Soulja Boy brachten bereits eigene Meme-Coins auf den Markt. Nach einem anfänglichen Hoch sanken die Marktwerte der Coins drastisch. Die drei Prominenten stehen im Verdacht, mithilfe der sogenannten „<a href="https://www.businessinsider.com/celebrity-meme-coins-crypto-scam-trump-jason-derulo-caitlyn-jenner-2025-2" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">Pump-and-Dump“-Strategie</a> ihren Fans das Geld aus der Tasche gezogen zu haben – das bedeutet, den Kurs durch gezielte Eigenkäufe und Hype künstlich in die Höhe zu treiben, um dann heimlich mit Gewinn auszusteigen, während die Fans auf wertlosen Coins sitzen bleiben.</p><p>Auch US-Präsident Donald Trump veröffentlichte kürzlich seinen eigenen Meme-Coin. Für wichtige Investoren veranstaltete er <a href="https://www.rollingstone.com/culture/culture-news/trump-crypto-dinner-1235347312/" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">ein pompöses Dinner</a><span>. Crypto-Mogul Justin Sun erhielt dabei von Trump persönlich eine Uhr im Wert von über 100.000 Dollar. So machen die Menschen, die Wählern und Fans als Vorbilder dienen sollten, zwielichtige Geschäftspraktiken salonfähig.</span></p><p><strong>Zwischen Narren und Nihilismus</strong></p><p>Derweil überschwemmen die Hofnarren der Herrscher das Netz mit schlechten Witzen. Vor rund sieben Jahren ging ein Interview mit der damals noch unbekannten Dasha Nekrasova auf einer Demonstration viral. Eine Reporterin der rechtsextremen Verschwörungs-Plattform InfoWars <a href="https://www.youtube.com/watch?v=THUFzmmKMPs" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">interviewte Nekrasova </a>zu ihrer Meinung über Sozialismus. Nekrasova in japanischer Matrosen-Schuluniform tippte gelangweilt ins Smartphone, schlürfte Kaffee und antwortete mit arrogantem Gleichmut auf die banalen Fragen.</p><p>Das Video brachte Nekrasova den Internetspitznamen „Sailor Socialism“ ein und trug maßgeblich zur Bekanntheit <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Red_Scare_(podcast)" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">des Podcasts bei</a>, den sie kurz vorher gegründet hatte. Sieben Jahre später hat sich der Wind gedreht. Während die ehemalige Infowars-Journalistin namens Ashton Blaise heute als bisexuell geoutete Onlyfans-Influencerin <a href="https://x.com/theashtonblaise" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">ihr Twitter-Profil</a> mit einer Regenbogenfahne schmückt, hat Nekrasova Alex Jones, den Gründer von Infowars, in ihren Podcast eingeladen.</p><p>Zwischendurch ging es noch gemeinsam mit Jones <a href="https://www.instagram.com/p/CWlvBy1lIbj/?hl=de&img_index=1" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">auf den Schießstand in Texas</a>. Dem Zuschauer dieser amerikanischen Medien-Folklore bleibt kaum etwas anderes übrig, als an Magie zu glauben.</p><p><strong>Moderner Mystizismus</strong></p><p>Ohnehin ist das magische Denken in die Feeds zurückgekehrt. Vielleicht ist es auch nie so ganz verschwunden: Wenige Kraftübungen sollen die gewünschte Figur formen, einige Klicks für schnellen Reichtum sorgen. Viral gehen können alle immerzu und Geld lässt sich manifestieren – man müsse nur fest daran glauben und den jeweiligen Coaches oder einem besonders findigen Creator gut genug zuhören.</p><p>Die modernen Geschäftemacher haben vom römisch-katholischen Geschäftsmodell der Ablassbriefe gelernt: Ob Himmel oder American Dream – wer nur fest daran glaubt, dem gelingt schließlich der Aufstieg. Mit der Hoffnung auf Erlösung und Angst vor dem Abstieg in die (finanzielle) Hölle lässt sich gutes Geld verdienen.</p><p><strong>Abschalten oder wehren?</strong></p><p>Dabei hat die ganze Unvernunft der Bilderhöllen – oder des Bilderhimmels, je nach Stimmung – sicherlich auch etwas Faszinierendes, würden da nicht im Minutentakt neue Hiobsbotschaften von Trump und Konsorten, Meldungen über falsche Nazis, echte Nazis oder alte Nazis hereinprasseln. Findige politische Akteure und Geschäftemacher wissen die Dynamik der neuen Medien und die Bildersucht der Gesellschaft für sich zu nutzen. Sie arbeiten im Takt eines Internets, dessen Geschwindigkeit unaufhörlich zunimmt.</p><p>Reale Skandale wie der Fall um den Immobilien-Millionär und <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Jeffrey_Epstein" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">verurteilten Sexualstraftäter Jeffrey Epstein</a> muten tatsächlich wie mittelalterliche Gräuel an. Sie erscheinen in Medien, denen viele längst nicht mehr trauen, und stehen neben Inhalten, die irgendwo zwischen dreister Lüge und diffuser Halbwahrheit schweben. Dann fühlt sich das Netz doch wieder wie das Innenleben eines Gemäldes <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Garten_der_L%C3%BCste_(Bosch)" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">des Renaissance-Malers Hieronymus Bosch</a> an.</p><p>Auf die Bilder- und Informationsflut folgt eine Abstumpfung in Denken und Ausdruck. Dieser Flut dauerhaft ausgesetzt zu sein, macht irgendwann zuerst bitter und dann im schlimmsten Fall teilnahmslos. Eine soziale Schönheit, die sich im analogen Umgang mit Menschen ergibt, ist online zunehmend schwer herzustellen. Die Lösung für dieses Problem findet sich nicht bei den Plattformen. Es bleibt den Nutzern überlassen, entweder ganz abzuschalten, oder sich mit viel Kraft den neuen magischen Zeiten entgegenzustemmen.<span class=""></span></p><p><em>Vincent Först arbeitet als Journalist und Autor. An der Universität der Künste lehrt er Texttheorie- und Textgestaltung. Wenn er nicht gerade an seinem Schreibtisch sitzt, organisiert er Kulturveranstaltungen in Berlin. <strong>Kontakt: </strong><a href="https://www.instagram.com/halbwelt_/" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">Instagram</a>, <a href="https://mastodon.social/@vincefoerst" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">Mastodon</a>, <a href="https://bsky.app/profile/vincentfoerst.bsky.social" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">Bluesky.</a> Dieser Beitrag ist eine Übernahme von <a href="https://netzpolitik.org" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">netzpolitik</a>, gemäss Lizenz <a href="https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/4.0/" rel="nofollow noopener noreferrer" target="_blank">Creative Commons BY-NC-SA 4.0</a>.</em></p> <p>Über Vincent Först / netzpolitik:</p><p>Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. 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